JAHRESKREIS
32. WOCHE - DONNERSTAG
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ALTE UND
NEUE SOZIALE FRAGEN
Der Brief
an Philemon.
Verantwortung füreinander.
Solidarität und neue soziale Fragen.
I. In
einer der heutigen Lesungen1
hören wir Stellen aus dem
Brief an Philemon. Es
ist der kürzeste, aber auch der herzlichste Brief des Apostels Paulus, den er -
als eine Art Familienbrief - an einen Christen von Kolossä - seinen
geliebten
Mitarbeiter - adressiert. Philemons Sklave Onesimus war seinem
Herrn entflohen und im fernen Rom Paulus begegnet, der ihn zum Glauben bekehrte.
Auch wenn der Brief eine private Angelegenheit behandelt, ist er ein Zeugnis für
den universalen Geist des christlichen Glaubens, der von Anfang an für alle
offen ist: für den reichen Philemon genauso wie für den Sklaven Onesimus.
Johannes Chrysostomos hebt dies hervor, indem er verschiedene Bemerkungen im
Neuen Testament aufgreift: »Aquilas war ein Handwerker, die Purpurverkäuferin
stand einem Geschäfte vor, ein anderer war Gefängniswärter, ein anderer
Hauptmann, wie z.B. Kornelius; wieder ein anderer war kränklich, wie Timotheus,
und wieder ein anderer war ein davongelaufener Sklave, wie Onesimus. Aber nichts
von all dem hinderte auch nur einen von ihnen am Tugendstreben; vielmehr haben
alle sich ausgezeichnet, Männer und Frauen, Jünglinge und Greise, Sklaven und
Freigeborene, Soldaten und Bürger.«2
Der
gefangene Apostel deutet an, er hätte zuerst Onesimus bei sich als Helfer
behalten wollen3,
schickt ihn dann aber doch zu Philemon zurück mit der Bitte, er möge ihn als
Bruder aufnehmen. Paulus spricht nicht kraft seiner Autorität, sondern bittet
um der Liebe
willen. Die Worte sind sehr persönlich, man spürt die Herzlichkeit
des Apostels:
Ich, Paulus, ein alter Mann, der jetzt für Christus Jesus im Kerker liegt, ich
bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin.4
Nach dem
Recht drohte dem entflohenen Sklaven sogar die Todesstrafe. Aber der Apostel
zögert nicht, Onesimus zu seinem Herrn zurückzuschicken. Ein Wortspiel hilft
ihm, seine Absicht zu erläutern:
Früher konntest du ihn zu nichts
gebrauchen, doch jetzt ist er dir und mir recht nützlich. Ich schicke ihn zu dir
zurück, ihn, das bedeutet mein eigenes Herz.5
Der Name Onesimus bedeutet nämlich »der Nützliche«
er war einmal für seinen Herrn unnütz und lief ihm weg, nun wird er ihm von
Nutzen sein, denn er gibt Philemon die Gelegenheit, ihm gegenüber christliche
Brüderlichkeit zu üben. Ja, Philemon soll ihn aufnehmen, als wäre der Ankommende
Paulus selbst: Wen» du dich mir verbunden fühlst, dann nimm ihn also auf wie
mich selbst!
Diese
Worte können wir in ihrer wahren Bedeutung erst ermessen, wenn wir bedenken, daß
die Sklaverei in den Augen der heidnischen Welt eine vorgegebene,
selbstverständliche soziale Gegebenheit war. Nur Christen konnten die
Ungerechtigkeit erkennen, die darin lag, einen Menschen wie eine Sache zu
behandeln. Vor Gott und seiner Kirche fallen alle sozialen Unterschiede weg.
Jeder besitzt die Würde der Gotteskindschaft aufgrund der Erlösung in Christus.
»Paulus
nimmt die damalige Rechtsordnung zunächst als gegeben hin. Er stellt das
Eigentumsrecht des Philemon gegenüber Onesimus nicht im geringsten in Zweifel.
Wie Christi Lehre so war auch des Apostels Botschaft zunächst eine rein
religiöse. Sie betraf das Verhältnis von Gott und Seele. War dieses geordnet, so
mußte es sich allmählich auf alle menschlichen Lebensbedingungen auswirken. So
wurde die Sklaverei von innen heraus überwunden.«6
Der Brief
des Apostels ist ein gutes Beispiel für die Art, wie das Christentum ungerechte
soziale Strukturen von innen her aushöhlt, indem es die Mentalität ändert. Wir
sind heute - von den sachlichen Gegebenheiten her - in einer anderen Lage.
Sklaven gibt es unter uns nicht mehr, aber vielleicht doch Menschen, denen man
die volle Würde und Menschlichkeit abspricht. Heute geht es darum, keine
Vorurteile aufgrund gesellschaftlicher Stellung, Erziehung oder
Volkszugehörigkeit aufkommen zu lassen.
II. Mit
feinsinnigem Humor nimmt der Apostel den Entlaufenen in Schutz:
Wenn er dich
aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung! Ich,
Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich werde es bezahlen - um nicht davon zu
reden, daß du dich selbst mir schuldest.7
Tatsächlich schuldet Philemon dem Apostel das Wertvollste, was er hat: sein
Christsein, die Erfahrung der Gotteskindschaft. Jetzt soll sich die
Brüderlichkeit, die er unter seinen Glaubensgenossen erfahren hat, in ihm
erweisen.
Das Neue
Testament enthält zahlreiche Ermahnungen in diesem Sinne. Paulus gibt uns eine
der markantesten:
Einer trage des anderen Last; so
werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen8,
schreibt er an die Galater. Und in seinem Brief an die Philipper begründet er
diese Gesinnung:
Seid untereinander so gesinnt, wie es
dem Leben in Christus entspricht (...); er entäußerte sich und wurde wie ein
Sklave.
Deshalb hat er sie vorher aufgefordert:
Macht meine Freude dadurch vollkommen, daß ihr eines Sinnes seid, einander in
Liebe verbunden, einmütig und einträchtig (...). Jeder achte nicht nur auf das
eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.10
In der
zweiten Christengeneration schreibt Ignatius von Antiochien - auf dem Weg zum
Martyrium - an seinen Jünger Polykarp: »Trage alle, wie auch dich der Herr
trägt; ertrage alle in Liebe, wie du es ja auch tust. (...) Trage die
Krankheiten aller als ein vollkommener Kämpfer.«11
Unsere
Haltung gegenüber den Brüdern und Schwestern muß von Verantwortung füreinander
getragen sein. Dies heißt, auf ihr Wohl zu achten, besonders dann, wenn wir
merken, daß sie uns brauchen, weil sie überlastet oder in Bedrängnis sind.
Augustinus wendet sich in seinen »Bekenntnissen«
an Gott und schreibt über seine Mitchristen: »Sie
sind deine Diener, meine Brüder; du hast sie zu deinen Kindern erwählt und zu
meinen Herren gemacht und mir befohlen, ihnen zu dienen, wenn ich mit dir und
aus dir leben will.«12
Die Sorge
um die anderen ist keine zusätzliche Last; eher läßt sie uns aus unserem engen
Ich heraustreten. Sie weitet das Herz. Weder Zeitmangel noch die Angst, sich das
Leben zu verkomplizieren, dürfen uns davon abhalten. Ihre Anliegen sollen uns
angehen - vom gesundheitlichen Befinden des Freundes bis hin zu seinem Glauben.
Besondere Sorge verdienen die Kranken: Anteilnahme, ein aufmunterndes Wort, das
hilft, das Leiden Gott aufzuopfern, gemeinsames Beten.
Wir
können von den ersten Christen lernen, wie echte Liebe sich zuerst der Brüder
und Schwestern im Glauben annimmt, um sie in der Beharrlichkeit zu stärken, aber
dann auch jene erreicht, die fern von Christus stehen.
In der
Schrift heißt es:
eine dreifache Schnur reißt nicht so
schnell13.
Tatsächlich können wir - uns gegenseitig helfend - wie eine ummauerte Stadt
sein: uneinnehmbar und in der Lage, Hindernisse zu überwinden, die wir allein
nicht überwinden könnten. »>Frater qui adiuvatur a fratre quasi civitas firma<.
Der Bruder, dem sein Bruder hilft, ist stark wie eine ummauerte Stadt. - Denke
einen Augenblick nach und entscheide dich, stets jene Brüderlichkeit zu leben,
die ich dir dauernd ans Herz lege.«14
III. Die
Brüderlichkeit wird in vielen persönlichen Tugenden konkret, die man auch
soziale Tugenden
nennen kann, weil sie den Mitmenschen im Blick haben: Loyalität, Dankbarkeit,
Solidarität. »Im Licht des Glaubens strebt die Solidarität danach, sich selbst
zu übersteigen, um die spezifisch christlichen Dimensionen des völligen
Ungeschuldetseins, der Vergebung und der Versöhnung anzunehmen. Dann ist der
Nächste nicht mehr nur ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner
grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern wird das lebendige Abbild Gottes,
des Vaters, erlöst durch das Blut Jesu Christi und unter das ständige Wirken des
Heiligen Geistes gestellt.«15
Die
solidarische Haltung orientiert sich an den Worten des Herrn:
Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle
erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.16
Ein Echo davon findet sich im ersten Johannes-Brief:
Daran haben wir die Liebe erkannt,
daß er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das
Leben hingeben.17
Dies geschieht vor allem im Alltag, zuhause und am Arbeitsplatz, gegenüber engen
Freunden oder Menschen, die uns zufällig begegnen. Es erfordert, um nur ein
kleines Beispiel zu nennen, Launen und Stimmungen zu beherrschen, damit andere
nicht in ihrer Würde durch rüde Ausdrucksformen oder abschätzige Urteile
verletzt werden.
Der Brief
an Philemon verdeutlicht diese Haltung. Paulus bittet nicht direkt um die
Freilassung des entflohenen und zurückgekehrten Sklaven, er will Philemons
freier Entscheidung nicht vorgreifen; aber er erinnert ihn an die
Hochherzigkeit, die er durch ihn erfahren hat, damit er sich selbst jetzt auch
als hochherzig erweist:
Wenn du dich mir verbunden fühlst,
dann nimm ihn also auf wie mich selbst! Wenn er dich aber geschädigt hat oder
dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung. (...) Ich werde es bezahlen -
um nicht davon zu reden, daß du dich selbst mir schuldest.18
Wie hätte Philemon da nein sagen können? Kaum ein Grund ist überzeugender, als
dieser Appell an die Freundschaft. Jedoch gibt sich der Apostel mit dieser
menschlichen Begründung nicht zufrieden. Wieder einmal das Wortspiel mit dem
Namen Onesimus aufgreifend, sagt er ihm, er möchte von ihm
einen Nutzen haben und
verankert alles in Christus: einen Nutzen
um des Herrn willen.
Deshalb kann er schließen:
Ich weiß, daß du noch mehr tun wirst,
als ich gesagt habe.19
Die
kleine christliche Gemeinde war nicht in der Lage, eine allgemein geltende
Ordnung außer Kraft zu setzen; die Christen sollten sie dadurch aushöhlen, daß
sie die Brüderlichkeit in Christus lebten, die besagt: es gibt keine Sklaven.
Auf diese Weise haben sie allmählich die Gesellschaft verändert.
Heute ist
die Sklaverei kein soziales Problem mehr, aber dafür hat »die Soziale Frage ein
weltweites Ausmaß erlangt. (...) So haben die politisch Verantwortlichen und
auch die Bürger der reichen Länder ganz persönlich, vor allem wenn sie Christen
sind, nach dem Grad ihrer jeweiligen Verantwortung die sittliche Verpflichtung,
bei ihren persönlichen wie öffentlichen Entscheidungen diese weltweite Beziehung,
diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihrem Verhalten und dem Elend und der
Unterentwicklung so vieler Millionen von Männern und Frauen, in Betracht zu
ziehen.«20 Heute gibt es neue soziale Fragen, neue Probleme: die Verelendung der
Dritten Welt, die Verschmutzung der Umwelt, die an den Rand unserer
Wohlstandsgesellschaft gedrängten ethnischen Gruppen, kinderreiche Familien, die
immer mehr ins soziale Abseits gedrängt werden, die ungeborenen Kinder, die ihr
Lebensrecht nicht selber erkämpfen können, sondern ganz auf unseren Schutz
angewiesen sind. Hier ist jeder aufgerufen, seine eigene soziale Verantwortung
wahrzunehmen. »Die unverletzliche Würde eines jeden Menschen neu zu entdecken
und entdecken zu lassen, ist eine wesentliche Aufgabe, ja, in einem gewissen
Sinn die zentrale und alle anderen einschließende Aufgabe im Kontext des
Dienstes an der Menschheitsfamilie, zu dem die Kirche und in ihr die Laien
berufen sind.«21
So gesehen ist der Brief an Philemon doch nicht nur ein reiner Familienbrief,
sondern eine Aufforderung an jeden von uns, in der Liebe universal - weltweit -
zu empfinden und in jedem Menschen Bruder oder Schwester zu sehen.
Phlm
7-20. -
2 Johannes
Chrysostomos,
Homilien über das Matthäusevangelium,
43. -
3 vgl.
Phlm 13. -
4
Phlm
9-10. -
5
Phlm
11. -
6
Regensburger Neues Testament,
Bd.7, Regensburg 1959, S.107. -
7
Phlm
18-19. -
8
Gal
6,2 . -
9
Phil
2,5-7. -
10
Phil
2,2-4. -
11 Ignatius von
Antiochien,
Brief an Polykarp, I,3.
- 12
Augustinus,
Bekenntnisse, 10,4. -
13
Koh
4,12. -
14 J.Escrivá,
Der
Weg, Nr.460. -
15 Johannes Paul II.,
Enz.
Solicitudo rei socialis, 40. -
16
Joh
13,34-35. -
17
1 Joh
3,16. -
18
Phlm
17-19. -
19
Phlm
21. -
20 Johannes Paul II., a.a.O., 9. -
21 ders.,
Apost.Schreiben
Christifideles laici,
30.12.1988, 37.