JAHRESKREIS
27. WOCHE - MITTWOCH
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VATER
UNSER
Das Gebet
des Herrn.
Gotteskindschaft und Gebet.
In die Gemeinschaft der Heiligen eingebunden.
I. Die
Jünger hatten oft beobachtet, wie der Herr sich zurückzog, um zu beten: allein
und nicht selten die ganze Nacht hindurch. Auch sie waren betende Menschen. Aber
der Anblick des betenden Herrn läßt sie den Wunsch verspüren, besser zu beten.
Eines Tages, so hören wir im heutigen Evangelium,
als er
das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten.
»Das Gebet ist also nicht nur unmittelbare, ganz persönliche Žußerung des
Herzens. Es gibt etwas zu lernen und zu üben am Beten. Man kann sich durch den
Rat und die Erfahrung anderer anleiten und fördern lassen. Auf ihre Bitte hin
schenkt Jesus den Jüngern das Vaterunser.«2
Keine
Worte sind so oft über Menschenlippen gegangen wie dieses Gebet des Herrn. Die
Bitten des Vaterunser sind »so einfach, daß ein Kind sie lernen kann, und
zugleich so tief, daß man ein ganzes Leben lang bei deren Betrachtung verweilen
könnte.«3 Vor allem aber: Sie sind Bitten, die wir an einen Vater richten.
»Abba« ist die familiäre Anrede, das Wort, das kleine Kinder gebrauchen. Als
Anrede Gottes kommt es im Alten Testament nicht vor; ein frommer Jude hätte es
nie gewagt, sich so an Gott zu wenden. Jesus offenbart uns, daß derselbe Gott,
der seine Schöpfung unendlich übersteigt, uns unsagbar nahe ist. »Den anderen
Geschöpfen« erläutert Thomas von Aquin, »hat er kleine Gaben geschenkt, uns aber
die Erbschaft. Denn wir sind seine Kinder, und als solche seine Erben:
Denn ihr
habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so daß ihr euch
immer noch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu
Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!
(
8,15).«4
Das
Vaterunser »wird durch die Lehren aufgeschlossen, die es im Matthäusevangelium
umgeben und die wir die Bergpredigt nennen. Es wird durch Gleichnisse
beleuchtet, mit denen der Herr das Verhältnis des Vaters zu den Menschen deutet,
wie das vom verlorenen Sohn. Aus diesem Zusammenhang heraus muß es verstanden
werden, dann wird es zu einem lebendigen Weg, der uns zum Vater führt. Dann
leuchtet dessen Angesicht uns auf, und wir fühlen sein Herz.«5
Das Herz
Gottes ... Wer einmal das Vaterunser in starker Not und äußerster
Hilfsbedürftigkeit gebetet hat - inständig, eindringlich, ja leidenschaftlich -,
weiß, wie es sich einprägen kann und dem Beten in den Niederungen des Alltags
guttut. Das Vaterunser soll unser ganzes Leben prägen, denn, nach einem Wort des
Kirchenvaters Cyprian, »wenn wir Gott unseren Vater nennen, müssen wir bedenken,
daß wir uns als Kinder Gottes benehmen sollen.«6
II. Viele
tun sich mit dem Gebet schwer: »Wir wissen nicht recht, wie man das macht, und
vielleicht sind all die großen grundsätzlichen Schwierigkeiten doch nur ein
ideologischer Überbau, der diese unsere faktische Unfähigkeit, unser
Nicht-fertig-Werden mit dem Gebet rechtfertigen soll: Weil wir's nicht können,
erfinden wir eine Theorie, die uns sagt, daß wir es gar nicht können können,
weil es überhaupt nicht mehr geht und gar keinen Sinn mehr hat. An welchem Ende
wir auch anfangen, stoßen wir auf Schwierigkeiten: Bittgebet, nun das scheint
eben wirklich ein Mißverständnis unserer selbst und Gottes zu sein - schließlich
ist Gott nicht unser Bedienter (...). Aber Lobgebet und Anbetung, das gelingt
uns noch viel weniger und kommt uns im Grund auch ein wenig albern vor: Was kann
es schon vor Gott bedeuten, wenn wir ein Lob auf ihn stammeln?«7
Mit dem
Vaterunser gibt uns der Herr die Antwort auf diese Schwierigkeiten. Wir sind
manchmal in einer ähnlichen Stimmung wie der ältere Sohn im Gleichnis vom
verlorenen Sohn, der seinem Vater gereizt begegnet; aber dieser antwortet ihm:
Mein
Kind, du bist immer bei mir.8
Wenn es
uns gelingt, unsere Beziehung zu Gott auf diese Grundlage zu stellen -
du bist
immer bei mir, alles, was mein ist, ist auch dein
- dann ist unser Leben nicht mehr ein dunkles Rätsel - Ratlosigkeit wegen des
Heute, Angst vor dem Morgen -, sondern Beglückung, im Haus des Vaters sein zu
dürfen, und Auftrag:
Geht auch
ihr in meinen Weinberg,
seht die ganze Schöpfung als mein Eigentum und eure Aufgabe. Dann meistern wir
unser Leben ohne Angst - nicht selbstherrlich, sondern kindhaft fromm. »Die
Frömmigkeit, die aus der Gotteskindschaft erwächst, ist eine zutiefst in der
Seele verwurzelte Haltung, die schließlich das ganze Dasein eines Menschen
erfaßt; sie ist gegenwärtig in jedem Gedanken, in jedem Wunsch, in jeder
Gemütsregung.«10
Das Wort
»Abba, Vater« verbindet unser Beten mit dem Beten Jesu, auch wenn seine
Sohnschaft anders ist als unsere Gotteskindschaft. Er hat uns während der Zeit
seines öffentlichen Lebens gelehrt, wie Frömmigkeit und Gotteskindschaft
zusammengehören. Das Evangelium schildert uns die Umstände seines Betens:
Nachdem
er
weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät
am Abend war er immer noch allein auf dem Berg.
Es erinnert uns daran, mitten in unseren alltäglichen Beschäftigungen eine feste
Zeit für Gott zu finden. Es lehrt uns, daß er
nicht nur
für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben,
betet, und fordert uns auf, zu wachen und zu beten, damit wir nicht in
Versuchung geraten
und treu bleiben bis zum Ende.
Sein Gebet in Getsemani -
Abba,
Vater (...) nicht, was ich will, sondern was du willst
- lehrt uns in der Not beten, sein Gebet am Kreuz -
Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun
- lehrt uns auch inmitten ärgster Anfeindungen unser Herz nicht zu verschließen.
Die
Wurzeln von alldem liegen im Vaterunser, im
Abba,
Vater:
»Du mein Vater - rede ihn so an, voll Vertrauen! -, mein Vater im Himmel: Blicke
in barmherziger Liebe auf mich herab, und gewähre mir, daß ich dieser Liebe
entspreche.
Gib, daß
mein steinernes Herz sich erweichen läßt! Entflamme es! Durchdringe und läutere
mein unbußfertiges Fleisch! Erleuchte meinen Verstand mit dem Lichte des
Himmels! Laß meinen Mund die Liebe und die Herrlichkeit Christi verkünden!«17
III.
Unser Gebet soll demütig wie das Gebet des Zöllners,
beharrlich wie das des zudringlichen Freundes und der aufdringlichen Witwe
sein. Es soll persönlich -
Geh in
deine Kammer (...) und schließ die Tür zu
- und doch offen für alle sein: »Das Gebet, das Jesus uns lehrt, beginnt:
Vater. Deshalb darf ich nicht nur um
tägliches Brot, um die Vergebung
Schuld, um
Rettung vor dem Verderben bitten. Vor Gott stehe ich immer in der Reihe der
Brüder und Schwestern. Ihre Gefährdungen und Leiden sind unlösbar mit meinen
eigenen verknüpft. Eine Gebetspraxis, die das nicht ernstnimmt, gleitet in einen
religiös verkappten Egoismus ab.«"21
Wenn wir
Gott
unseren
Vater
nennen, erkennen wir an, daß wir Brüder und Schwestern haben, deren Nöte uns
etwas angehen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit fremdem Leid, mit
Hilfsbedürftigkeit, quälenden Fragen und ungelösten Problemen konfrontiert
werden: im Kreis der Familie, der Freunde oder der Arbeitskollegen, bei der
Zeitungslektüre oder wenn wir fernsehen.
Unser
Gebet für alle Brüder und Schwestern erinnert uns außerdem daran, daß jene, die
uns jeden Tag begegnen, ein Recht darauf haben, als Brüder und Schwestern
behandelt zu werden:
Wenn
jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn
wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er
nicht sieht.22
Das Vaterunser ist das Gebet, das die
Gemeinschaft der Heiligen untereinander verbindet. Wir beten für andere: für
alle Menschen, auch für jene, die das Gebet nie gekannt haben, und für jene, die
es nicht mehr kennen, und für jene, die nicht beten wollen. Wir leihen unsere
Stimme all denen, die nicht wissen oder vergessen haben, daß sie einen
allmächtigen Vater im Himmel haben. Ebenso danken wir für alle, die niemals
danken. Und wir bitten für die Bedürftigen, die diese Quelle der Kraft nicht
kennen.
Ebenso
beten andere für uns und machen sich mit ihrem Vaterunser unsere Nöte und unsere
Freuden zu eigen. Es entsteht ein Netz der gegenseitigen Fürbitten. Das ist
unser Glaube, den wir - persönlich oder miteinander, aber immer eingebunden in
die Gemeinschaft - mit Maria, mit allen Heiligen, mit allen Gläubigen bekennen.
11,1-4. -
F.Hengsbach,
Was gilt?
Kurze Darlegung des katholischen Glaubens
Bd.2, Sankt Augustin 1977, S.11. -
Johannes Paul II.,
Ansprache
vom 14.3.1979.
-
Thomas von Aquin,
Über das
Vaterunser.
-
R.Guardini,
Vorschule
des Betens,
Mainz
1986,
S.90. -
Cyprian von Karthago,
Über das
Gebet des Herrn,
11. -
J.Kard.Ratzinger,
Dogma und
Verkündigung,
München 1973, S.122. -
15,31. -
20,4. -
J.Escrivá,
Freunde
Gottes,
146. -
14,23. -
17,20. -
vgl.
26,41. -
vgl.
21,36. -
14,36. -
23,34. -
J.Escrivá,
Im Feuer
der Schmiede,
Nr.3. -
vgl.
18,9-14. -
vgl.
11,5-8;18,1-8. -
6,6. -
F.Hengsbach,
Was gilt?
Kurze Darlegung des katholischen Glaubens
Bd.2, Sankt Augustin 1977, S.23. -
4,20.