Spanisch Deutsch Portugiesisch ---- Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch Portugiesisch
Francisco Fernández-Carvajal Hablar con Dios

JAHRESKREIS
32. WOCHE - DONNERSTAG

25

ALTE UND NEUE SOZIALE FRAGEN

Der Brief an Philemon.
Verantwortung füreinander.
Solidarität und neue soziale Fragen.

I. In einer der heutigen Lesungen1 hören wir Stellen aus dem Brief an Philemon. Es ist der kürzeste, aber auch der herzlichste Brief des Apostels Paulus, den er - als eine Art Familienbrief - an einen Christen von Kolossä - seinen geliebten Mitarbeiter - adressiert. Philemons Sklave Onesimus war seinem Herrn entflohen und im fernen Rom Paulus begegnet, der ihn zum Glauben bekehrte. Auch wenn der Brief eine private Angelegenheit behandelt, ist er ein Zeugnis für den universalen Geist des christlichen Glaubens, der von Anfang an für alle offen ist: für den reichen Philemon genauso wie für den Sklaven Onesimus. Johannes Chrysostomos hebt dies hervor, indem er verschiedene Bemerkungen im Neuen Testament aufgreift: »Aquilas war ein Handwerker, die Purpurverkäuferin stand einem Geschäfte vor, ein anderer war Gefängniswärter, ein anderer Hauptmann, wie z.B. Kornelius; wieder ein anderer war kränklich, wie Timotheus, und wieder ein anderer war ein davongelaufener Sklave, wie Onesimus. Aber nichts von all dem hinderte auch nur einen von ihnen am Tugendstreben; vielmehr haben alle sich ausgezeichnet, Männer und Frauen, Jünglinge und Greise, Sklaven und Freigeborene, Soldaten und Bürger.«2

Der gefangene Apostel deutet an, er hätte zuerst Onesimus bei sich als Helfer behalten wollen3, schickt ihn dann aber doch zu Philemon zurück mit der Bitte, er möge ihn als Bruder aufnehmen. Paulus spricht nicht kraft seiner Autorität, sondern bittet um der Liebe willen. Die Worte sind sehr persönlich, man spürt die Herzlichkeit des Apostels: Ich, Paulus, ein alter Mann, der jetzt für Christus Jesus im Kerker liegt, ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin.4

Nach dem Recht drohte dem entflohenen Sklaven sogar die Todesstrafe. Aber der Apostel zögert nicht, Onesimus zu seinem Herrn zurückzuschicken. Ein Wortspiel hilft ihm, seine Absicht zu erläutern: Früher konntest du ihn zu nichts gebrauchen, doch jetzt ist er dir und mir recht nützlich. Ich schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein eigenes Herz.5 Der Name Onesimus bedeutet nämlich »der Nützliche« er war einmal für seinen Herrn unnütz und lief ihm weg, nun wird er ihm von Nutzen sein, denn er gibt Philemon die Gelegenheit, ihm gegenüber christliche Brüderlichkeit zu üben. Ja, Philemon soll ihn aufnehmen, als wäre der Ankommende Paulus selbst: Wen» du dich mir verbunden fühlst, dann nimm ihn also auf wie mich selbst!

Diese Worte können wir in ihrer wahren Bedeutung erst ermessen, wenn wir bedenken, daß die Sklaverei in den Augen der heidnischen Welt eine vorgegebene, selbstverständliche soziale Gegebenheit war. Nur Christen konnten die Ungerechtigkeit erkennen, die darin lag, einen Menschen wie eine Sache zu behandeln. Vor Gott und seiner Kirche fallen alle sozialen Unterschiede weg. Jeder besitzt die Würde der Gotteskindschaft aufgrund der Erlösung in Christus.

»Paulus nimmt die damalige Rechtsordnung zunächst als gegeben hin. Er stellt das Eigentumsrecht des Philemon gegenüber Onesimus nicht im geringsten in Zweifel. Wie Christi Lehre so war auch des Apostels Botschaft zunächst eine rein religiöse. Sie betraf das Verhältnis von Gott und Seele. War dieses geordnet, so mußte es sich allmählich auf alle menschlichen Lebensbedingungen auswirken. So wurde die Sklaverei von innen heraus überwunden.«6

Der Brief des Apostels ist ein gutes Beispiel für die Art, wie das Christentum ungerechte soziale Strukturen von innen her aushöhlt, indem es die Mentalität ändert. Wir sind heute - von den sachlichen Gegebenheiten her - in einer anderen Lage. Sklaven gibt es unter uns nicht mehr, aber vielleicht doch Menschen, denen man die volle Würde und Menschlichkeit abspricht. Heute geht es darum, keine Vorurteile aufgrund gesellschaftlicher Stellung, Erziehung oder Volkszugehörigkeit aufkommen zu lassen.

II. Mit feinsinnigem Humor nimmt der Apostel den Entlaufenen in Schutz: Wenn er dich aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung! Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich werde es bezahlen - um nicht davon zu reden, daß du dich selbst mir schuldest.7 Tatsächlich schuldet Philemon dem Apostel das Wertvollste, was er hat: sein Christsein, die Erfahrung der Gotteskindschaft. Jetzt soll sich die Brüderlichkeit, die er unter seinen Glaubensgenossen erfahren hat, in ihm erweisen.

Das Neue Testament enthält zahlreiche Ermahnungen in diesem Sinne. Paulus gibt uns eine der markantesten: Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen8, schreibt er an die Galater. Und in seinem Brief an die Philipper begründet er diese Gesinnung: Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus entspricht (...); er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave. Deshalb hat er sie vorher aufgefordert: Macht meine Freude dadurch vollkommen, daß ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig (...). Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.10

In der zweiten Christengeneration schreibt Ignatius von Antiochien - auf dem Weg zum Martyrium - an seinen Jünger Polykarp: »Trage alle, wie auch dich der Herr trägt; ertrage alle in Liebe, wie du es ja auch tust. (...) Trage die Krankheiten aller als ein vollkommener Kämpfer.«11

Unsere Haltung gegenüber den Brüdern und Schwestern muß von Verantwortung füreinander getragen sein. Dies heißt, auf ihr Wohl zu achten, besonders dann, wenn wir merken, daß sie uns brauchen, weil sie überlastet oder in Bedrängnis sind. Augustinus wendet sich in seinen »Bekenntnissen« an Gott und schreibt über seine Mitchristen: »Sie sind deine Diener, meine Brüder; du hast sie zu deinen Kindern erwählt und zu meinen Herren gemacht und mir befohlen, ihnen zu dienen, wenn ich mit dir und aus dir leben will.«12

Die Sorge um die anderen ist keine zusätzliche Last; eher läßt sie uns aus unserem engen Ich heraustreten. Sie weitet das Herz. Weder Zeitmangel noch die Angst, sich das Leben zu verkomplizieren, dürfen uns davon abhalten. Ihre Anliegen sollen uns angehen - vom gesundheitlichen Befinden des Freundes bis hin zu seinem Glauben. Besondere Sorge verdienen die Kranken: Anteilnahme, ein aufmunterndes Wort, das hilft, das Leiden Gott aufzuopfern, gemeinsames Beten.

Wir können von den ersten Christen lernen, wie echte Liebe sich zuerst der Brüder und Schwestern im Glauben annimmt, um sie in der Beharrlichkeit zu stärken, aber dann auch jene erreicht, die fern von Christus stehen.

In der Schrift heißt es: eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell13. Tatsächlich können wir - uns gegenseitig helfend - wie eine ummauerte Stadt sein: uneinnehmbar und in der Lage, Hindernisse zu überwinden, die wir allein nicht überwinden könnten. »>Frater qui adiuvatur a fratre quasi civitas firma<. Der Bruder, dem sein Bruder hilft, ist stark wie eine ummauerte Stadt. - Denke einen Augenblick nach und entscheide dich, stets jene Brüderlichkeit zu leben, die ich dir dauernd ans Herz lege.«14

III. Die Brüderlichkeit wird in vielen persönlichen Tugenden konkret, die man auch soziale Tugenden nennen kann, weil sie den Mitmenschen im Blick haben: Loyalität, Dankbarkeit, Solidarität. »Im Licht des Glaubens strebt die Solidarität danach, sich selbst zu übersteigen, um die spezifisch christlichen Dimensionen des völligen Ungeschuldetseins, der Vergebung und der Versöhnung anzunehmen. Dann ist der Nächste nicht mehr nur ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern wird das lebendige Abbild Gottes, des Vaters, erlöst durch das Blut Jesu Christi und unter das ständige Wirken des Heiligen Geistes gestellt.«15

Die solidarische Haltung orientiert sich an den Worten des Herrn: Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.16 Ein Echo davon findet sich im ersten Johannes-Brief: Daran haben wir die Liebe erkannt, daß er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben.17 Dies geschieht vor allem im Alltag, zuhause und am Arbeitsplatz, gegenüber engen Freunden oder Menschen, die uns zufällig begegnen. Es erfordert, um nur ein kleines Beispiel zu nennen, Launen und Stimmungen zu beherrschen, damit andere nicht in ihrer Würde durch rüde Ausdrucksformen oder abschätzige Urteile verletzt werden.

Der Brief an Philemon verdeutlicht diese Haltung. Paulus bittet nicht direkt um die Freilassung des entflohenen und zurückgekehrten Sklaven, er will Philemons freier Entscheidung nicht vorgreifen; aber er erinnert ihn an die Hochherzigkeit, die er durch ihn erfahren hat, damit er sich selbst jetzt auch als hochherzig erweist: Wenn du dich mir verbunden fühlst, dann nimm ihn also auf wie mich selbst! Wenn er dich aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung. (...) Ich werde es bezahlen - um nicht davon zu reden, daß du dich selbst mir schuldest.18 Wie hätte Philemon da nein sagen können? Kaum ein Grund ist überzeugender, als dieser Appell an die Freundschaft. Jedoch gibt sich der Apostel mit dieser menschlichen Begründung nicht zufrieden. Wieder einmal das Wortspiel mit dem Namen Onesimus aufgreifend, sagt er ihm, er möchte von ihm einen Nutzen haben und verankert alles in Christus: einen Nutzen um des Herrn willen. Deshalb kann er schließen: Ich weiß, daß du noch mehr tun wirst, als ich gesagt habe.19

Die kleine christliche Gemeinde war nicht in der Lage, eine allgemein geltende Ordnung außer Kraft zu setzen; die Christen sollten sie dadurch aushöhlen, daß sie die Brüderlichkeit in Christus lebten, die besagt: es gibt keine Sklaven. Auf diese Weise haben sie allmählich die Gesellschaft verändert.

Heute ist die Sklaverei kein soziales Problem mehr, aber dafür hat »die Soziale Frage ein weltweites Ausmaß erlangt. (...) So haben die politisch Verantwortlichen und auch die Bürger der reichen Länder ganz persönlich, vor allem wenn sie Christen sind, nach dem Grad ihrer jeweiligen Verantwortung die sittliche Verpflichtung, bei ihren persönlichen wie öffentlichen Entscheidungen diese weltweite Beziehung, diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihrem Verhalten und dem Elend und der Unterentwicklung so vieler Millionen von Männern und Frauen, in Betracht zu ziehen.«20 Heute gibt es neue soziale Fragen, neue Probleme: die Verelendung der Dritten Welt, die Verschmutzung der Umwelt, die an den Rand unserer Wohlstandsgesellschaft gedrängten ethnischen Gruppen, kinderreiche Familien, die immer mehr ins soziale Abseits gedrängt werden, die ungeborenen Kinder, die ihr Lebensrecht nicht selber erkämpfen können, sondern ganz auf unseren Schutz angewiesen sind. Hier ist jeder aufgerufen, seine eigene soziale Verantwortung wahrzunehmen. »Die unverletzliche Würde eines jeden Menschen neu zu entdecken und entdecken zu lassen, ist eine wesentliche Aufgabe, ja, in einem gewissen Sinn die zentrale und alle anderen einschließende Aufgabe im Kontext des Dienstes an der Menschheitsfamilie, zu dem die Kirche und in ihr die Laien berufen sind.«21 So gesehen ist der Brief an Philemon doch nicht nur ein reiner Familienbrief, sondern eine Aufforderung an jeden von uns, in der Liebe universal - weltweit - zu empfinden und in jedem Menschen Bruder oder Schwester zu sehen.

Phlm 7-20. - 2 Johannes Chrysostomos, Homilien über das Matthäusevangelium, 43. - 3 vgl. Phlm 13. - 4 Phlm 9-10. - 5 Phlm 11. - 6 Regensburger Neues Testament, Bd.7, Regensburg 1959, S.107. - 7 Phlm 18-19. - 8 Gal 6,2 . - 9 Phil 2,5-7. - 10 Phil 2,2-4. - 11 Ignatius von Antiochien, Brief an Polykarp, I,3. - 12 Augustinus, Bekenntnisse, 10,4. - 13 Koh 4,12. - 14 J.Escrivá, Der Weg, Nr.460. - 15 Johannes Paul II., Enz. Solicitudo rei socialis, 40. - 16 Joh 13,34-35. - 17 1 Joh 3,16. - 18 Phlm 17-19. - 19 Phlm 21. - 20 Johannes Paul II., a.a.O., 9. - 21 ders., Apost.Schreiben Christifideles laici, 30.12.1988, 37.

* Editions Wort (Inhaber von Urheberrechten) hat uns ermächtigt, tägliche Meditation auf bestimmte Benutzer zum persönlichen Gebrauch zu verbreiten, und wollen nicht ihre Verteilung durch Fotokopieren oder andere Formen der Distribution.