JAHRESKREIS
2. WOCHE - DIENSTAG
11
Die
person im mittelpunkt
»Der Sabbat ist für den
Menschen da«»Menschenwürde und Arbeit.
Kirche und Gesellschaft.
An einem Sabbat ging Jesus durch die
Kornfelder, und unterwegs rissen seine Jünger Ähren ab.1
Die Pharisäer sahen darin eine Art Erntearbeit und damit einen Bruch der
Sabbatruhe.2
So verlangen sie vom Meister, er möge die Jünger zurechtweisen. Jesus bestreitet
nicht, daß im Verhalten der Jünger eine Übertretung des Sabbatgebotes liegt noch
daß man Ährenpflücken als Erntearbeit bewerten kann. Er will indes den Streit
aus den Niederungen der Kasuistik auf die Ebene des Grundsätzlichen heben. So
antwortet er - wie so oft - mit einer Gegenfrage und mit einem Hinweis auf die
Heilige Schrift:
Habt ihr nie gelesen, was David getan
hat, als er und seine Begleiter hungrig waren und nichts zu essen hatten - wie
er zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die heiligen
Brote aß, die außer den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Begleitern
davon gab?
Jesus nutzt die Gelegenheit, den
wahren Sinn der Sabbatruhe zu erklären:
Der Sabbat ist für den Menschen da,
nicht der Mensch für den Sabbat. Mit diesem grundsätzlichen Wort
bestimmt er das Verhältnis, in dem Mensch und Sabbat zueinander stehen: Gott,
der Schöpfer und Gesetzgeber, hat den Sabbat zum Wohle des Menschen eingesetzt,
damit dieser einen Ruhetag habe. Folglich wäre es eine Umkehrung der
gottgewollten Ordnung, den Menschen zum Sklaven des Sabbats zu machen.
Das Zweite Vatikanische Konzil greift
dieses Wort des Herrn auf, um zu begründen, daß »die gesellschaftliche Ordnung
und ihre Entwicklung (...) sich dauernd am Wohl der Personen orientieren müssen,
denn die Ordnung der Dinge muß der Ordnung der Personen dienstbar werden und
nicht umgekehrt.«1 Der Mensch hat in der Schöpfung den Vorrang vor
allen anderen Geschöpfen. Sein Rang wird im Menschen Jesus Christus offenbar: Er
»verwirklicht in sich das, was die Berufung des Menschen ist: er ist voll und
ganz versöhnt mit dem Vater, voll und ganz eins in sich selbst, er gibt sich
voll und ganz den anderen hin. (...) Wir sind vor allem demütige Empfänger des
wahren Lebens Gottes, der Gerechtigkeit und Friede, verbunden durch Liebe, ist.«2
Im heutigen Evangelium lehrt uns der
Herr, den Menschen in die Mitte der Schöpfung zu stellen und zu seinem Schöpfer
aufzublicken. Denn der Mensch »ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über
die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am
Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung
enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem
zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist (...) nicht >letzte<,
sondern >vorletzte< Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns
anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe
und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung
bringen.«3
II. Mit einem überraschenden Gedanken
gibt Jesus der Auseinandersetzung eine Wende und verbindet seine Antwort mit der
Vollmacht, die ihm als
Menschensohn zukommt:
Deshalb ist der
Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Er erlaubt nicht, daß die
Sorge um das Gesetz, das dem Menschen zu dienen hat, den Blick auf eben diesen
Menschen verstellt. Jesu befreiende Antwort relativiert das Gesetz nicht, eher
offenbart sie dessen Tiefe - es ist Schutz für den Menschen und seine Würde.
Was macht die Würde des Menschen aus?
Er ist »auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur.«4
Das ist schon viel. Er ist nach Gottes Bild und Ähnlichkeit erschaffen;
das ist noch viel mehr, vor allem aber: Er hat unser Fleisch angenommen. Durch
die Menschwerdung macht Christus »dem Menschen sein eigenes Wesen voll kund und
erschließt ihm seine höchste Berufung.«5
Wird unsere Sicht der Mitmenschen nicht allzu oft von rein
pragmatischen Kriterien bestimmt? Was sie leisten, was sie produzieren, wie sie
mir nützen können? Andere nicht zu diskriminieren oder auszugrenzen mag für
einen normal gebildeten Menschen kein Problem sein - wie aber steht es mit
unserem Wohlwollen, schließt Gott doch keinen von seiner Liebe aus? Gott ist
Mensch geworden um der Menschen und um unseres Heiles willen - das gilt ohne
Ausnahme. Diese Liebe Gottes ist der letzte Grund, weshalb ein Christ für jeden
offen sein muß und keinem seine Wertschätzung verweigern darf.
Es genügt nicht, die Menschenwürde
theoretisch zu bejahen. Die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen
müssen so gestaltet werden, daß sich in ihnen das Leben des Menschen würdig
entfalten kann. Dies gilt auch für die Art und Weise, wie man die Arbeit in
einer Gesellschaft bewertet. Vom Erlöser heißt es: er
entäußerte sich und wurde wie ein
Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen8.
Jesus widmete den größten Teil seiner Lebensjahre der körperlichen Arbeit in
einer Zimmermann-Werkstatt. Daraus geht hervor, »daß die Grundlage zur Bewertung
menschlicher Arbeit nicht in erster Linie die Art der geleisteten Arbeit ist,
sondern die Tatsache, daß der, der sie verrichtet, Person ist. Die Würde der
Arbeit wurzelt zutiefst nicht in ihrer objektiven, sondern in ihrer subjektiven
Dimension.«9 Die Kirche weist jede materialistische oder rein
ökonomistische Ideologie zurück und widersetzt sich »einer einseitig
materialistischen Zivilisation, in der man in erster Linie der objektiven
Dimension der Arbeit Bedeutung beimißt, während die subjektive Dimension -
alles, was in direkter oder indirekter Beziehung zum Subjekt der Arbeit steht -
im Hintergrund bleibt. In allen solchen Fällen, in jeder sozialen Situation
dieser Art geschieht eine Verwirrung oder sogar Umkehrung der Ordnung, wie sie
von Anfang an mit den Worten des Buches Genesis festgelegt ist: Der Mensch wird
als bloßes Werkzeug behandelt, während er - um seiner selbst willen, unabhängig
von der Arbeit, die er tut - als deren verursachendes Subjekt, als deren wahrer
Gestalter und Schöpfer behandelt werden sollte.«10 Weder darf die
Arbeit bloße »Ware« sein, die der Arbeitnehmer, vor allem der Industriearbeiter,
dem Arbeitgeber verkauft, noch ist der Arbeitnehmer bloße »Arbeitskraft«.
»Die Gerechtigkeit verlangt
Berücksichtigung nicht nur bei der Verteilung des Reichtums, sondern auch bei
der Struktur von Unternehmen, in denen produktive Arbeit geleistet wird. Der
Menschennatur wohnt tatsächlich die Forderung inne, daß sie, die Menschen, in
der Entfaltung ihrer produktiven Tätigkeit die Möglichkeit finden, selbst
Verantwortung zu tragen und ihr eigenes Sein zu vervollkommnen. Wenn deshalb die
Strukturen, der Betrieb, die Atmosphäre eines Wirtschaftssystems derart sind,
daß sie die Menschenwürde derer gefährden, die dort ihre eigene Tätigkeit
entfalten, oder daß sie in ihnen den Sinn für die Verantwortung systematisch
abstumpfen oder daß sie ein Hindernis sind für jede Äußerung ihrer persönlichen
Initiative, ist ein so geartetes Wirtschaftssystem ungerecht, auch für den Fall,
daß der in ihm produzierte Reichtum hohe Quoten erreicht und nach Gerechtigkeit
und Billigkeit verteilt wird.«11
III. Eine Gesellschaft wie die unsere,
die so stark von wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprägt ist, gerät leicht in
die Gefahr, materialistisch zu werden. Die Kirche erinnert immer wieder daran,
daß der Mensch auf Gott hin erschaffen wurde und alles in seinem Leben diesem
Ziel dienen muß. Auch wenn sie bei ihren Stellungnahmen zu sozialen,
ökonomischen und politischen Fragen die Sachaussagen und Analysen der Sozial-
und Wirtschaftswissenschaften berücksichtigt, ist sie sich bewußt, daß sie
gegenüber der Gesellschaft eine andere Sendung wahrnimmt, als Wissenschaft und
staatliche Gewalt sie haben: ihre Sorge um die zeitlichen Belange des
Gemeinwohls gründet darin, daß »diese auf das höchste Gut, unser letztes Ziel,
hingeordnet sind. Sie ist bestrebt, die richtige Einstellung zu den irdischen
Gütern und den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Beziehungen zu verbreiten.«12
Sie erinnert stets daran, daß der letzte Grund des wirtschaftlichen Fortschritts
»weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in Erzielung von Gewinn
oder Ausübung von Macht liegt, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen
Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf
das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben
benötigt.«13
Der Christ weiß um die verführerische
wie fragwürdige Utopie eines »neuen Menschen« und eines »irdischen Paradieses«
Denn »aus christlicher Sicht ist der Mensch ein fehlbares Mängelwesen, das, von
der Erbsündenverstrickung belastet, nicht in der Lage ist, die absolute
Gerechtigkeit und das perfekte Glück auf Erden zu realisieren. Die Katholische
Soziallehre leidet also nicht an jenem Münchhausen-Komplex der Selbsterlösung,
wonach man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen kann. Sie fordert
nicht die totalitäre Einheit zwischen Theorie und Praxis, zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, sondern nimmt die bleibende Differenz zwischen beiden in Kauf. Sie
erträgt die >eschatologische< Differenz zwischen dem >Schon< des Erlöstseins und
dem >Noch nicht< der vollendeten Erlösung.«14Aber ebenso ermutigt die
Kirche den einzelnen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, denn »man
liebt die Gerechtigkeit nicht, wenn man sie nicht im Hinblick auf die anderen
lebt. Ebensowenig ist es erlaubt, sich auf Kosten der anderen hinter einer
bequemen Frömmigkeit zu verstecken. Wer vor Gott gerecht sein will, kämpft auch
um die Verwirklichung der Gerechtigkeit unter den Menschen.«15
Die Sorge um die Würde des Menschen in
der modernen Wirtschaftswelt - die wir in die Mitte unserer Betrachtung gestellt
haben - ist nur ein Aspekt des Kampfes um eine gerechtere, menschlichere
Gesellschaft, die im Einklang steht mit dem Willen des Schöpfers. Denken wir nur
an den Kampf um den Schutz des menschlichen Lebens, der in unseren Tagen so
dringlich geworden ist: um das Lebensrecht der Ungeborenen, der Alten, der
unheilbar Kranken...
In einem gewissen Sinne zeigt das heutige Evangelium, wie der
Herr die Würde des einzelnen gegen die Mißdeutung des Gesetzes schützt. Bitten
wir ihn um Klarheit und Kraft, uns nicht zu drücken, wo unser Einsatz, wo unser
Aufschrei vonnöten ist.
Mk
2,25-28. -
2 vgl.
Ex
34,21. -
3 II. Vat. Konz., Konst.
Gaudium et spes, 26. -
4 Johannes Paul II.,
Predigt in New York, 2.10.1979. -
5 ders., Enz.
Evangelium vitae, 2. -
6 II. Vat. Konz., Konst.
Gaudium et spes, 24. -
7 ebd., 22. -
8
Phil
2,7. -
9 Johannes Paul II.,
Enz.
Laborem exercens, 6. -
10 ebd., 7. -
11
Johannes XXIII., Enz.
Mater et
Magistra,
82-83. -
12
Katechismus der Katholischen Kirche, 2420. -
13
II. Vat. Konz., Konst.
Gaudium et spes, 64. -
14
W. Ockenfels,
Kleine katholische Soziallehre,
Trier 1990, S.40. -
15 J. Escrivá,
Christus begegnen, 52.