JAHRESKREIS
5. WOCHE - MONTAG
37
der
einzelne und die vielen
Die Welt als Schöpfung.
Der Mensch, ein
gesellschaftliches Wesen.
Das Gemeinwohl.
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde
(...). Gott sah, daß es gut war. Wir hören diese Worte in der
heutigen Lesung1:
Mit ihnen beginnt die Heilige Schrift den Schöpfungsbericht. Wuchtig und
schlicht verkünden diese Worte die innerste Wahrheit über die Welt: sie ist
Schöpfung. Und in dieser Wahrheit »kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß alles,
was außerhalb Gottes existiert, von ihm ins Dasein gerufen worden ist.«3
Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser und Gestirne, Pflanzen und
Tiere... - alles ist Gottes Werk. Schlicht antwortet der Glaube Israels auf die
mythischen Vorstellungen der Völker ringsum. Die Sonne? Der Mond? Gott machte
die beiden großen Lichte=
2. Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser und Gestirne, Pflanzen und
Tiere... - alles ist Gottes Werk. Schlicht antwortet der Glaube Israels auf die
mythischen Vorstellungen der Völker ringsum. Die Sonne? Der Mond? Gott machte
die beiden großen Lichtr, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere,
das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das
Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hin leuchten
- und den Menschen zum Staunen und Forschen bringen. Und der Mensch selbst? Er
steht in der Mitte dieses Kosmos als »das einzige Geschöpf (...), das Gott um
seiner selbst willen gewollt hat.«4 Nach dem Bild Gottes4
geschaffen, ist er fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum
Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt, um sie in Verherrlichung Gottes zu
beherrschen und zu nutzen.«5 Der Mensch soll herrschen über die
Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze
Erde6. Doch seine eigentliche Berufung ist, am Lieben Gottes
teilzuhaben: »Gott hat alles für den Menschen erschaffen, aber der Mensch selbst
ist erschaffen worden, um Gott zu dienen, ihn zu lieben und ihm die ganze
Schöpfung darzubringen.«7
Der Mensch fragt nach den Sternen,
aber vor allem fragt er - als einziges Geschöpf, das von seiner Geburt und
seinem Tod weiß - nach dem Sinn seines Lebens. Die innere Erfahrung des
Gewissens und die äußere Erfahrung der Welt um ihn zwingen ihn gleichsam dazu.
Es sind Fragen, die er sich zu allen Zeiten gestellt hat und sich immer stellen
wird: »>Woher kommen wir?< >Wohin gehen wir?< >Woher stammen wir?< >Wozu sind
wir da?< >Woher kommt alles, was da ist, und wohin ist es unterwegs?< Die beiden
Fragen, die nach dem Ursprung und die nach dem Ziel, lassen sich nicht
voneinander trennen. Sie sind für den Sinn und die Ausrichtung unseres Lebens
und Handelns entscheidend.«8
Der Glaube antwortet auf diese
Grundfragen, daß die Schöpfung Werk des einen und dreifaltigen Gottes ist: »Das
Universum, die geschaffene Gabe, geht hervor aus der ungeschaffenen Gabe, aus
der gegenseitigen Liebe des Vaters und des Sohnes, aus der Heiligsten
Dreifaltigkeit.«9 Zwischen der Einheit der göttlichen Personen und
der brüderlichen Gesinnung, in der die Menschen in Wahrheit und Liebe
untereinander leben sollen, besteht eine gewisse Ähnlichkeit (...). Die
menschliche Person bedarf des gesellschaftlichen Lebens. Dieses stellt für sie
nicht etwas Zusätzliches dar, sondern ist ein Anspruch ihrer Natur.«10
Die Auskunft des Glaubens ist Bekenntnis, das unser Lieben formt. Betend fragen
wir uns, ob wir im gesellschaftlichen Gefiige so präsent sind, daß es den
Erwartungen Gottes entspricht; er hat uns ja dazu berufen, nach Heiligkeit zu
streben und die Menschen in unserer Nähe zur Heiligkeit zu führen.
II. Der Mensch ist »aus seiner
innersten Natur ein gesellschaftliches Wesen; ohne Beziehung zu den anderen kann
er weder leben noch seine Anlagen zur Entfaltung bringen.«11 Diese
Verfaßtheit äußert sich zuerst in der Familie, dann in der Gesellschaft. Sie
»ist notwendig für die Verwirklichung der Berufung des Menschen«12
und darf daher nicht bloß als Rahmen für die eigene Selbstbehauptung, sondern
muß als ein Feld gegenseitiger Beziehungen angesehen werden: »Durch Begegnung
mit anderen, durch wechselseitige Dienste und durch Zwiesprache mit seinen
Brüdern und Schwestern entwickelt der Mensch seine Anlagen und kann seiner
Berufung entsprechen.«13
Die Entfaltung der Person bedarf des
menschlichen Miteinanders: »Das Zusammenleben der Menschen ist (...) als ein
vordringlich geistiges Geschehen aufzufassen. In den geistigen Bereich gehören
nämlich die Forderungen, daß die Menschen im hellen Licht der Wahrheit ihre
Erkenntnisse untereinander austauschen, daß sie in den Stand gesetzt werden,
ihre Rechte wahrzunehmen und ihre Pflichten zu erfüllen, daß sie angespornt
werden, die geistigen Güter zu erstreben, daß sie aus jeder ehrenhaften Sache,
wie immer sie beschaffen sein mag, einen Anlaß zu gemeinsamer rechtschaffener
Freude gewinnen, daß sie in unermüdlichem Wollen das Beste, was sie haben,
einander mitzuteilen und voneinander zu empfangen suchen.«14
Aber das Zusammenleben und -wirken der Menschen ist nicht nur
Quelle eigener Bereicherung, sondern bringt Pflichten und Verantwortung für das
Ganze mit sich: über die Familie hinaus für Staat, Gemeinde, Nachbarschaft,
Arbeitsleben, Verbände... Die Pflichten und Aufgaben, die damit zusammenhängen,
haben auch mit der Hinordnung des Menschen auf sein letztes Ziel, auf Gott hin,
zu tun und sollen Gegenstand der persönlichen Gewissenserforschung sein. Wer sie
beobachtet, kommt dem Herrn näher, wer sie mißachtet, mißachtet Gottes Pläne.
Deshalb brauchen wir ein erleuchtetes Gewissen, damit wir beispielhaft unsere
familiären und sozialen Pflichten erfüllen.
Die Menschwerdung Gottes in Jesus
Christus vertieft die von der Schöpfung her schon gegebene Solidarität der
Menschen untereinander: als Kinder Gottes werden wir in einem viel tieferen
Sinne zu Brüdern und Schwestern untereinander. »In unseren Brüdern, den
Menschen, müssen wir Christus sehen, der uns in ihnen begegnet. Kein
menschliches Leben ist isoliert, sondern jedes ist mit allen anderen
verflochten. Keiner ist wie ein bezugloser Vers, alle sind wir Teil ein und
derselben göttlichen Dichtung, die Gott unter Mitwirkung unserer Freiheit
verfaßt.«15
Gott gießt in die Herzen der Gläubigen
seinen Geist16,
damit sie nach diesem Gesetz leben können. Christus selbst betet zum Vater, daß
die Liebe, mit
der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin17.
»Wir lieben die Menschen nicht nur, weil Gott sie liebt oder weil er will, daß
wir sie lieben, sondern weil er uns seinen Geist gegeben und seine eigene Liebe
zu ihnen in unsere Herzen gelegt hat. (...) Die
agape, die aus der
ewigen Quelle des dreifaltigen Gottes strömt, die in Jesus Christus menschliche
Gestalt und ein menschliches Herz angenommen hat, möchte jetzt die ganze Erde
>überfluten<; sie will sich in den Herzen verbreiten wie der Honig in den Waben.
Auf dieser tiefen und verborgenen Ebene geschieht die wahre Verwandlung der
Welt.«18
III. Aufgrund der gesellschaftlichen
Natur des Menschen steht das Wohl eines jeden in Verbindung mit dem Gemeinwohl.
Dieses »läßt sich nur von der menschlichen Person her bestimmen« und ist »die
Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den
Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die eigene Vollendung
voller und leichter zu erreichen.«19 Dazu gehören: Achtung der
Person, Ausgleich von Sonderinteressen, Zugänglichmachen von allem, was für ein
wirklich menschliches Leben notwendig ist, Schaffung von Voraussetzungen für den
sozialen Frieden, Ernstnehmen der kleineren Gemeinwesen usw. Für unsere
Meditation genügt es, dies nur anzudeuten und zu bedenken, daß das Evangelium
nur dann »das gesamte menschliche Leben durchdringen und in das ganze Leben der
Gesellschaft hineingetragen werden kann«20, wenn unser Zeugnis auch
die vorbildliche Erfüllung unserer staatsbürgerlichen Pflichten umfaßt. Es wäre
nicht christlich, die Pflichten, die sich auf das Gemeinwohl beziehen, bloß
insoweit wahrzunehmen, wie sie einem persönlich vorteilhaft erscheinen. Deshalb
sollen wir hin und wieder unser Gewissen daraufhin prüfen, ob wir unsere
sozialen und bürgerlichen Pflichten ernst nehmen: vom Steuernzahlen und der
Ausübung des Wahlrechts bis zum Engagement in Verbänden, Vereinen usw.
Der persönliche Beitrag jedes
einzelnen zum Gemeinwohl ist eine moralische Pflicht. Manchen erscheint diese
Sorge abstrakt und wenig faßbar. Unter ihnen gibt es »auch solche, die zwar
großzügige und hochherzige Auffassungen im Munde führen, in Wirklichkeit jedoch
immer so leben, als ob sie sich nicht um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu
kümmern brauchten, ja in verschiedenen Ländern beachten nicht wenige die
sozialen Gesetze und Vorschriften so gut wir gar nicht.«22 Auch bei
frommen Christen lauert die Versuchung, das Gemeinwohl anf den engen
Gesichtskreis der eigenen Interessen zu reduzieren und zu vergessen, daß das
Prinzip der Solidarität »sich aus der menschlichen und christlichen
Brüderlichkeit direkt ergibt.«22
In unserer Meditation haben wir
versucht, die soziale Natur des Menschen von der Schöpfung und der Menschwerdung
her zu betrachten. Jetzt, am Ende unserer Zeit des Gebetes, bitten wir den Herrn
auf die Fürsprache Unserer Lieben Frau, er möge uns immer ein feines Gespür für
solidarisches Handeln schenken. Es hat immer - trotz aller menschlichen
Verfehlungen im Verlauf der Geschichte - das Leben der Kirche geprägt: »Seit
zweitausend Jahren lebt und verharrt in der Seele der Kirche dieser Sinn, der
die Seelen - bis zum Liebesheroismus der das Land bebauenden Mönche, der
Sklavenbefreier, der Krankenheiler, der Boten des Glaubens, der Zivilisation,
der Wissenschaft - zu allen Generationen und Völkern gedrängt hat und drängt, um
Gesellschaftsverhältnisse zu schaffen, die allen ein menschen- und
christenwürdiges Leben ermöglichen.«23
Gen
1,1-19. -
2 Johannes Paul II.,
Ansprache 15.1.1986. -
3 II. Vat. Konz.,
Konst.
Gaudium et spes, 24. -
4
Gen
1,27. -
5 II. Vat. Konz.,
Konst.
Gaudium et spes, 12. -
6
Gen
1,28. -
7
Katechismus der Katholischen Kirche, 358. -
8
ebd., 282. -
9 Johannes Paul II.,
Ansprache 5.3.1986. -
10
Katechismus der Katholischen Kirche, 1878. -
11
II. Vat. Konz., Konst.
Gaudium et spes, 12. -
12
Katechismus der Katholischen Kirche, 1886. -
13
ebd., 1879. -
14 Johannes XXIII.,
Enz.
Pacem in terris, 36. -
15 J. Escrivá,
Christus begegnen, 111. -
16 vgl.
Röm
5,5. -
17
Joh
17,26. -
18 R. Cantalamessa,
Das
Leben in Christus, Graz 1990, S.230. -
19
Katechismus der Katholischen Kirche, 1905 und 1906. -
20
Johannes Paul II.,
Ansprache 11.10.1985,
15. -
21 II. Vat. Konz., Konst.
Gaudium et spes, 25. -
22
Katechismus der Katholischen Kirche, 1939. -
23
Pius XII.,
Ansprache 1.6.1941.