JAHRESKREIS
2. WOCHE - MITTWOCH
12
Aus der
Sicht des Glaubens
Zwei Sehweisen.
Alles von Gott her sehen,
auf Gott hin tun.
Glauben und natürliche
Tugenden.
I. Jesus betrat eine Synagoge und
begegnete dort einem Menschen,
dessen Hand verdorrt war1.
Der Kranke lenkt alle Blicke auf sich - die kritischen Blicke der Gegner Jesu,
die wieder einmal die Chance wittern, den Herrn doch noch zu Fall zu bringen,
und den barmherzigen Blick Jesu, dem keine Not entgeht. Jesus läßt den Kranken
in die Mitte treten und wendet sich zunächst an seine Gegner:
Was ist am
Sabbat erlaubt: Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu
vernichten? Mit dieser Frage will er ihnen zeigen, wie verknöchert
ihre Auffassung vom Gesetz ist. »Heilung am Sabbat war nur bei Lebensgefahr
gestattet. (...) Wie spielend und schlagend hat er immer eine Antwort auf ihre
Fragen gewußt. Jetzt stellt er die Frage, und schon sind sie in der Enge.
Absichtlich hat er die Lage so gestaltet, daß sie sehen, wohin ihre
Gesetzesauffassung führt. Ihre Sabbatheiligung hindert das Gute und führt
letztlich zum Verderben des Menschen. Zumindest mordet sie die Seele. Leben und
Seele ist dasselbe Wort im Griechischen und Hebräischen. Daher schließt die
zweite Frage auch dies ein: eine Seele retten oder morden!«2
Sie aber
schwiegen, heißt es.
Jesus sah sie
der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu
dem Mann: Streck deine Hand aus! Diesen muß beim Hören der Worte
Jesu ein großes Zutrauen erfaßt haben. Er verläßt sich auf Jesus und tut, was er
ihm befiehlt: Er
streckte sie aus und seine Hand war wieder gesund.
Ist das schon Glauben? Nicht der übernatürliche Glauben an den
Gottessohn, aber doch Glauben in dem Sinne, daß er sich Jesus öffnet. Das Wunder
zeigt uns, daß wir, wenn wir wirklich glauben, Ziele erreichen können, die wir
für unerreichbar hielten. In der Kraft des Glaubens lassen sich viele Knoten
lösen.
Der Geheilte verließ sich ganz auf
Jesus. Vielleicht haben wir einmal versucht, eine gute Eigenschaft zu festigen,
eine ungute Gewöhnung loszuwerden - und dann entmutigt aufgegeben. Fragen wir
uns jetzt - im Lichte des heutigen Evangeliums -, ob wir dabei nicht zuviel auf
uns selbst und zuwenig auf den Herrn vertraut haben?
Die Pharisäer teilten die Freude des
Geheilten nicht; sie
gingen hinaus und faßten zusammen mit
den Anhängern des Herodes den Beschluß, Jesus umzubringen. Ihre
Entschlossenheit erklärt, weshalb der Herr sie vor der Heilung
voll Zorn und
Trauer über ihr verstocktes Herz angesehen hatte. »Daß der Eifer
für das Gesetz den Menschen so verblenden und verhärten kann, daß er das Gute
nicht mehr anerkennen will, wo es ihm andersgeartet entgegentritt, ist schon
Tragik sondergleichen. Aber noch furchtbarer wird alles, wenn sie vollends kalt
und ohne Bedenken den Tod dessen beschließen, der nur die Liebe kennt. Ein
Warnungssignal voll trauriger Deutlichkeit ist dies für die menschliche
Beschränktheit und Enge, die gerade im Eifer für das Gesetz Gottes das wahrhaft
Gute zertreten kann.«3
II. Der Herr fordert den Kranken auf:
Streck deine
Hand aus! Er verlangt eine kleine Anstrengung. Von uns erwartet
der Herr etwas Ähnliches: »daß der Christ gerade in seinem Alltagsleben, in den
einfachen Dingen, in den ganz gewöhnlichen Situationen Glaube, Hoffnung und
Liebe lebt, denn darin äußert sich wesenhaft das Verhalten eines auf die
göttliche Hilfe vertrauenden Menschen.«4
Der Glaube soll die großen und kleinen
Entscheidungen unseres Lebens durchdringen. Das
Credo soll nicht nur
Wissen, sondern tätiges Bekennen sein.
Aber wie? Indem man alles von Gott her
sieht und auf Gott hin tut, eine Haltung, die man auch »übernatürliche Sicht=
nennt. Sie mag uns in bestimmten Augenblicken unseres Lebens - angesichts eines
großen persönlichen Erfolgs etwa - nicht schwer fallen. Wie aber, wenn es um die
unscheinbaren, glanzlosen Dinge unseres Alltags geht? Christen machen die
gleichen Alltagserfahrungen wie ungläubige Menschen. Der Glaube verwandelt diese
Erfahrungen nicht auf magische Weise, das heißt, die Arbeit bleibt Arbeit,
Schmerz bleibt Schmerz, Frust bleibt Frust. Aber die Bindung an Christus und die
Erhellung des eigenen Lebens durch das Licht des Evangeliums bringen es mit
sich, daß solche Erfahrungen für den Christen in einem anderen Licht erscheinen
(... ). Für den einen sind ein kurzes Leben und ein früher Tod sinnlos und
ungerecht, der andere nimmt beides an in der Ergebenheit einer
Selbstbescheidung, die weiß, daß die bleibende Lebensgabe nicht zu ertrotzen,
sondern nur als Geschenk zu haben ist. Kurz: Zwei tun dasselbe - aber sie tun
doch nicht dasselbe. Der Unterschied liegt darin, daß der eine >um die Ecke
schauen kann<. Und dieser Blick erlaubt es ihm, die Dinge anders zu sehen und zu
verstehen. (...) Ein gläubiger Blick um die Ecke kann dazu führen, daß einer in
den vielfältigen Situationen des Alltags menschlicher, bewußter reagiert.«5
Der Glaube ist also nichts
Äußerliches, er erfaßt den ganzen Menschen. Deshalb die Mahnung des heiligen
Paulus an die Christen in Philippi:
Was immer wahrhaft, edel, recht, was
lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist,
darauf seid bedacht!6
Gnade und Natur, übernatürliche und
natürliche Tugenden verschmelzen im gewöhnlichen Leben eines Glaubenden. Ein
Bildstock am Weg kann genauso zu einem Stoßgebet führen wie eine schwierige
Situation bei der Arbeit oder in der Familie, wie ein Schmerz oder eine
Krankheit. Auch aus solchen profanen Situationen kann die Bitte um Licht und
Kraft erwachsen. Man setzt dann trotz Müdigkeit die begonnene Arbeit fort;
bleibt dem Freund verbunden, der sich unzugänglich für einen geistlichen Wink
zeigt, kurz: man wartet gelassen auf die Früchte, denn »die Pflugschar, die den
Acker umbricht und in ihm die Furchen zieht, sieht weder den Samen noch die
Frucht.«7
Strecke deine Hand aus,
die Aufforderung des Herrn an den Kranken, ist gleichzeitig eine Aufforderung
des Herrn an uns, beständig Glaube, Hoffnung und Liebe zu üben. Immer wieder
sagt uns der Herr: versuche es von neuem, bemühe dich weiter. Übe den Glauben
nicht nur beim Beten, am Sonntag oder in extremen Situationen, sondern gerade im
Alltag: beim Sport, im Büro, im Verkehrsgewühl. Sieh den Glauben nicht als ein
abstraktes »Ideal« laß ihn alles, was du tust, durchdringen und beseelen. Dann
erhält auch das scheinbar Sinnlose einen Sinn, den nur Gott kennt.
die Hand ausstrecken,
damit, was verdorrt ist, aufs neue die Spannkraft des Glaubens erhält - so
könnte man das geistliche Leben umreißen. »Erschließt sich unser Geist dem Hauch
der Gnade, stimmt er ihrem Wirken zu und arbeitet er auch nur ein wenig mit, so
wird Gott uns stärken, uns führen und geleiten von Liebe zu Liebe, bis zu jenem
lebendigen Glauben, der für unsere Umgestaltung notwendig ist.«8 Wenn
hingegen das geistliche Leben als eine leidige Angelegenheit, eine beschwerliche
Pflicht, als frustrierend oder zeitraubend betrachtet wird, dann ist der
lebendige Glaube verdorrt.
Aus der Sicht des Glaubens dagegen
erscheint der Kampf um die Tugend, auch menschlich gesehen, als bereichernd.
Denn »Tugend bedeutet nicht die Bravheit und Ordentlichkeit eines isolierten
Tuns oder Lassens. Sondern Tugend bedeutet: daß der Mensch richtig >ist<, und
zwar im übernatürlichen wie im natürlichen Sinne.= 9 Die übernatürliche Sicht -
das gläubige Gespür für die Gegenwart Gottes - schärft den Blick für die
Reichtümer dieses Richtigseins. Wie vollendet muß die Menschlichkeit des Herrn
gewesen sein, die selbst seine Widersacher - obwohl mit verkehrter Absicht-
zugeben: Wir
wissen, daß du immer die Wahrheit sagst und wirklich den Weg Gottes lehrst, ohne
auf jemand Rücksicht zu nehmen, denn du siehst nicht auf die Person.10
Man lernt die natürlichen Tugenden
eines »guten Menschen« schätzen und sieht in den Kardinaltugenden Klugheit,
Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß mehr »als nur etwa Stichworte in einem
Verhaltenskatalog für den fairen, edlen oder humanen Bürger. Sie sind tiefer
gegründet als die Prinzipien eines bürgerlichen Wohlverhaltens, das allein
besorgt ist, die Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens zu beachten. Sie sind
verankert in der menschlichen Natur. Wir finden diese Tugenden nicht selten auch
bei Menschen, die Jesus Christus nicht kennen oder erkennen. Doch Glaube,
Hoffnung und Liebe, diese drei von Gott dem Menschen geschenkten Fähigkeiten -
darum werden sie >göttliche Tugenden< genannt -, sind ihre eigentliche Quelle
der Kraft.«11
Es ist wahr, daß uns die Heilige
Schrift und das Leben der Kirche Beispiele vom überwältigenden Wirken der Gnade
zeigen, das einen Menschen von Grund auf zu verwandeln vermag. Doch normal ist,
daß die Gnade auf der Natur aufbaut. Die natürlichen Tugenden sind die Stütze
für die übernatürlichen. Vernachlässigt man jene, wird das Fundament brüchig.
Die Pflege der natürlichen Tugenden
schafft die Voraussetzungen dafür, ein glaubwürdiger Zeuge zu werden - als
Mensch und als Christ. Und »der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf
Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.«12
Und Zeugnis ist nicht in erster Linie das gesprochene Wort, sondern ein
glaubwürdiges Verhalten - ob als Mutter, Arbeitnehmer, Arzt oder Student.
= 12 Und Zeugnis ist nicht in erster
Linie das gesprochene Wort, sondern ein glaubwürdiges Verhalten - ob als Mutter,
Arbeitnehmer, Arzt oder Student.Unsere Zeit braucht Zeugen, die - mit Worten von
Papst Johannes Paul II. - »Experten im Umgang mit den Menschen sind, die das
Herz des heutigen Menschen gründlich kennen, seine Freuden und Hoffnungen,
Ängste und Sorgen teilen und zugleich beschauliche Freunde Gottes sein wollen.
Dazu bedarf es neuer Heiliger. Die großen Evangelisatoren Europas waren die
Heiligen. Wir müssen den Herrn bitten, daß er den Geist der Heiligkeit in der
Kirche vermehre und uns neue Heilige sende, um die Welt von heute zu
evangelisieren.«13
Mk
3,1-6. -
2 J. Dillersberger,
Markus,
Bd.I, Salzburg 1937, S.148. -
3 ebd., S.150. -
4
J. Escrivá,
Christus begegnen, 169.
- 5
Ch. Bockamp,
Die Herausforderung des Alltags,
in:
Plädoyer für die Kirche, Aachen 1991, S.193-194. -
6
Phil
4,8. -
7 J. Escrivá,
Die
Spur des Sämanns, Nr.215. -
8 Franz von Sales,
Über
die Gottesliebe, Einsiedeln 1985, S.72. -
9
Josef Pieper,
Über das christliche Menschenbild,
München 1950, S.19-20. -
10
Mt
22,16. -
11
Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe 22.9.1977. -
12
Paul VI.,
Ansprache 2.10.1974. -
13
Johannes Paul II.,
Ansprache 11.10.1985.