Tagesmeditation

JAHRESKREIS
31. WOCHE – MITTWOCH

15

IM SCHATTEN DES KREUZES

Der verborgene Sinn des Leidens.
Leidend sammeln wir Schätze.
Nähe zum gekreuzigten Herrn.

I. »Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt. Kommt, lasset uns anbeten.= 1 Das Kreuz – schmachvollstes Todeswerkzeug – erscheint in alten Darstellungen oft als Baum: als Baum des Lebens, voller Blätter und Früchte. Es ist Zeichen des Lebens, denn am Kreuz wurde die Welt erlöst. Der Herr hat während seines irdischen Wandels oftüber das Kreuztragen als Zeichen der Nachfolge gesprochen. Kreuztragen heißt Leid, Schmerz und Widerwärtigkeiten auf sich nehmen. Im Evangelium der heutigen Messe sagt Jesus: Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.2 Und ein anderes Mal sagt er im Anschluß an die erste Leidensankündigung: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.3

Von Leid und Schmerz ist keiner ausgenommen. Der Apostel Paulus vergleicht die universale Erfahrung des Leidens mit den Geburtsschmerzen einer Mutter: Wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt.4 Und im ersten Petrusbrief werden die Christen ermahnt: Liebe Brüder, laßt euch durch die Feuersglut, die zu eurer Prüfung über euch gekommen ist, nicht verwirren, als ob euch etwas Ungewöhnliches zustoße.5 »Kreuzesnachfolge kann vielfältige Gestalt annehmen: Verfolgung, Verleumdung, Armut, Gehorsam, selbstloser Dienst, innere und äußere Zucht, Trostlosigkeit und Trauer, Einsamkeit, Krankheit und Leiden, Sterben.= 6 Nun sagt uns der Glaube, daß wir alles in einem – wenn auch bisweilen dunklen und uns unbegreiflichen – Zusammenhang mit dem Kreuz, mit Christi Leiden und Schmerz, sehen sollen.Das Leiden scheint »wesentlich die Natur des Menschen zu betreffen. Es ist so tief wie der Mensch selbst, gerade weil es auf seine Weise die dem Menschen eigene Tiefe ausdrückt und sie seinerseits noch übersteigt.«7 Die Frage nach seinem Ursprung und Sinn bewegt die Menschen seit jeher. »Im Anschluß an den heiligen Paulus lehrte die Kirche stets, daß das unermeßliche Elend, das auf den Menschen lastet, und ihr Hang zum Bösen und zum Tode nicht verständlich sind ohne den Zusammenhang mit der Sünde Adams und mit dem Umstand, daß dieser uns eine Sünde weitergegeben hat, von der wir alle schon bei der Geburt betroffen sind.«8 Der Glaube lehrt uns also einen Zusammenhang zwischen dem jetzigen Elend des Menschen und der Sünde Adams. Mit der Sünde traten Leid und Tod in die Welt. Aber mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes wurde ihnen der Stachel genommen. Christus hat mit uns die Beschwerden eines Menschendaseins teilen wollen: die alltägliche Last ebenso wie den Abstieg in tiefstes menschliches Leiden durch seine Passion und seinen Tod am Kreuz. Er verwandelte damit die Leiden und Nöte dieses Lebens in ein kostbares Gut. Mehr noch: Er zeigte uns den Weg, durch das ergeben angenommene Leiden und durch freiwillige Abtötung an unserem Leib zu ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt9.

Wie können wir dieses geheimnisvolle Wort des Apostels Paulus einordnen? »Der Glaube an die geheimnisvolle Teilhabe an den Leiden Christi bringt die innere Gewißheit mit sich, daß der leidende Mensch >ergänzt, was an den Leiden Christi noch fehlt<, daß er in der geistigen Dimension des Erlösungswerkes Christi dem Heil seiner Brüder und Schwestern dient. Damit ist er also nicht nur den anderen nützlich, sondern erfüllt zudem noch einen unersetzlichen Dienst. Im Leib Christi, der vom Kreuz des Erlösers her unaufhörlich wächst, ist gerade das vom Opfergeist Christi durchdrungene Leiden der unersetzliche Mittler und Urheber der für das Heil der Welt unerläßlichen Güter. Mehr als alles andere bahnt es der Gnade den Weg, die die menschlichen Seelen verwandelt. Mehr als alles andere läßt es in der Geschichte der Menschheit die Kräfte der Erlösung gegenwärtig werden.«10

II. Der Baum des Kreuzes ist ein fruchtbarer Baum. An uns liegt es, den verborgenen Sinn des Leidens zu entdecken, uns großzügig mit Christus bei der liebevollen Annahme des Schmerzes, der Widerwärtigkeiten, der Krankheit, der alltäglichen Unzuträglichkeiten zu verbinden. Alles, was der Herr zuläßt, geschieht zu unserer persönlichen Heiligung und zum Wohl der ganzen Kirche. Das Mitleiden mit ihm macht uns zu seinen Mitarbeitern am Werk des Heiles und verheißt uns die Vollendung in seiner Herrlichkeit am Ende unseres Weges.

Die Leiden erleichtern uns die Loslösung von den irdischen Gütern und helfen uns, selbst so wichtiges wie die Gesundheit zu relativieren. »Deus meus et omnia! – Mein Gott und mein alles!« war der Ruf des Franz von Assisi und ist der Ruf vieler Heiligen. Alfons von Liguori schreibt: »Selig jener, der aus ganzem Herzen sagen kann: Mein Jesus, du allein genügst mir!«11

Außerdem geben uns die Bedrängnisse und Widerwärtigkeiten Gelegenheit zur Sühne für unsere vergangenen Sünden. Der heilige Augustinus hebt hervor, daß der Herr in solchen Situationen als Arzt handelt, indem er durch das Heilmittel der Drangsal die Wunden der Sünden heilt12. Die Erfahrung des Leidens läßt uns leichter das göttliche Erbarmen suchen: Gott wartet, bis sie in ihrer Not wieder Ausschau halten nach mir13, heißt es beim Propheten Hosea. Der Herr fordert uns auf, Ausschau nach ihm zu halten in unserer Not: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten tragt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.14 Auch inmitten scheinbarer Ausweglosigkeit können wir dies erfahren: »Menschlichen Trost gibt es freilich nicht, aber der das Kreuz auflegt, versteht es, die Last süß und leicht zu machen.«15 Wahrhaftig, Gott ist unsere Zuflucht und Stärke16 inmitten aller Stürme des Lebens, er ist der Hafen des Heiles.

Die vielfachen Formen des Leidens geben uns Gelegenheit, viele Tugenden zu üben: Glauben, Starkmut, Demut, Ergebenheit, Hingabe an den Willen Gottes. »Bei dem Gedanken an all das, was in deinem Leben wertlos geblieben ist, weil du es Gott nicht dargebracht hast, solltest du >geizig< danach streben, jetzt noch sehr vieles zu sammeln. Dazu gehört auch, Leiden und Schmerzen nicht aus dem Weg zu gehen. - Denn sie sind ja die ständigen Begleiter der Geschöpfe - sie nicht zum Heil zu nutzen, wäre Torheit!«17

Mit anderen Worten: Leidend sammeln wir Schätze. Wer – im Glauben verankert – einmal einen sehr tiefen Schmerz erfahren hat, zum Beispiel beim Tod eines geliebten Menschen, weiß das. Die Erschütterung mag bis an die Wurzeln der Existenz gehen. Aber der Glaubende erfährt staunend, daß er nicht versinkt, sondern festen Boden unter sich spürt. Auf ihm ist das Kreuz Christi aufgerichtet.

Das rätselhafte menschliche Leid wird zum Mittel der Heiligung und führt zum Wachsen im inneren Leben. Selbst die Versuchungen tragen dazu bei: Gott ist treu; er wird nicht zulassen, daß ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, so daß ihr sie bestehen könnt.18 Jede Prüfung, in der Nähe Christi durchgestanden, bringt uns neue Gnade und neuen Segen.

III. Es gibt Augenblicke, in denen wir wie der Psalmist uns gedrängt fühlen zu beten: Wir sind machtlos vor dieser gewaltigen Menge, die gegen uns zieht und wissen nicht, was wir tun sollen. Nur auf dich sind unsere Augen gerichtet.19 Beim Herrn werden wir dann Trost und Hilfe erfahren.

Vielleicht vermag nicht einmal die stärkste Freude die Intensität von Stunden tiefsten Schmerzes zu erreichen. Nicht Verlorenheit, Einsamkeit oder Verzweiflung walten dann, sondern eine Kraft in der Schwäche, die »geliehen« zu sein scheint: sie kommt nicht aus den eigenen Wurzeln, sondern aus dem Felsen, um den diese sich ranken. Ich rief zum Herrn in meiner Not, und er hat mich erhört.20 Weder harmonischer Frieden noch abgeklärte Gelassenheit, noch jubelnde Freude können wie die große Not die inneren Reichtümer aufdecken, die in uns verborgen liegen.

Es ist menschlich, uns nach Glück und Wohlbefinden zu sehnen. Gott schenkt sie hin und wieder. Er schickt aber auch Leid und Schmerz, und oftmals sind das die Augenblicke, in denen die Seele erstarkt und reift. Der Erfolg erhebt uns in trügerische Höhen. Der Schmerz macht uns demütig und hilfsbedürftig. Aber die Freude nach durchlittenem Schmerz ist nicht die Befriedigung darüber, daß er vorbei ist, sondern die Freude, durch Leiden die Stärke einer im Alltag unbemerkt gebliebenen Liebe gekostet zu haben – zu Gott, zu einem Menschen … Die Freude, geweint zu haben.

Im barmherzigen Herzen Jesu finden wir immer Frieden und Trost. Besonders die Betrachtung seines Leidens wird uns stärken, denn wie die heilige Theresia von Avila schreibt: »In der Gegenwart eines so treuen Freundes und tapferen Feldherrn, der im Leiden sich an die Spitze gestellt hat, kann man alles ertragen. Er hilft uns und stärkt uns, er verläßt uns nie, er ist uns ein wahrer Freund.«21 Nahe beim Herrn vermögen wir alles, weit von ihm weg nichts.

Die Nähe zum Herrn läßt uns Nöte und Sorgen richtig bewerten. Nicht selten übertreiben wir ihre Bedeutung, manchmal sind sie auch das Produkt unserer Phantasie, die eine Kleinigkeit aufbauscht. Hier gilt die Beobachtung, die jemand einmal so formulierte: Ich habe mich immer bemitleidet, weil ich keine Schuhe hatte und barfuß gehen mußte – bis ich einen Menschen traf, der keine Füße hatte.

Am Ende unserer Zeit des Gebetes rufen wir Maria an, der schon am Anfang ihres Weges mit Jesus kundgetan wurde, ein Schwert werde ihr durch die Seele dringen.22 Sie möge uns lehren, die gegenwärtigen Prüfungen in Geduld zu ertragen und den kommenden in Hoffnung entgegenzugehen. »>Cor Mariae perdolentis, miserere nobis!< - Rufe das heiligste Herz Mariens an mit dem festen Vorsatz, dich mit ihrem Schmerz zu vereinen, als Sühne für deine Sünden und für die Sünden aller Menschen aller Zeiten.

Und dieser Schmerz – das erbitte von ihr für jede Seele – möge in uns die Abscheu vor der Sünde vertiefen und uns dazu bereit machen, die körperlichen oder seelischen Belastungen unseres Alltags in Liebe als Sühne anzunehmen.«23

Missale Romanum, Karfreitagsliturgie. – 2 Lk 14,27. – 3 Lk 9,23. – 4 Röm 8,22. – 5 1 Petr 4,12. – 6 Katholischer Erwachsenen-Katechismus, Bonn 1985, S.193. – 7 Johannes Paul II., Apost.Schreiben Salvifici doloris, 11.2.1984, 2. – 8 Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, 403. – 9 vgl. Kol 1,24. – 10 Johannes Paul II., a.a.O., 27. – 11 Alfons von Liguori, Predigten. – 12 Augustinus, Erklärung der Psalmen, 21,2,4. – 13 Hos 5,15. – 14 Mt 11,28. – 15 Edith Stein, Im verschlossenen Garten der Seele, Freiburg 1987, S.76. – 16 Ps 46,2. – 17 J.Escrivá, Die Spur des Sämanns, Nr.997. – 18 1 Kor 10,13. – 19 2 Chr 20,12. – 20 Ps 120,1. – 21 Theresia von Avila, Leben, 22. – 22 vgl. Lk 2,35. – 23 J.Escrivá, Die Spur des Sämanns, Nr.258.